6. März 2023 / Aus aller Welt

Bandenkrieg in Liverpool - Warum musste Olivia sterben?

Ein Mädchen ist tot, erschossen. Olivia wurde zufällig Opfer in einem Bandenkrieg, der in Liverpool wohl jeden treffen könnte. Nun steht der mutmaßliche Täter vor Gericht.

Die Mutter (M) des getöteten Mädchens kommt mit Familienmitgliedern zum Manchester Crown Court.
von Benedikt von Imhoff, dpa

Wohl kaum eine Stadt in England ist so stolz auf ihre Gemeinschaft wie Liverpool. Der Zusammenhalt hat es sogar in die inoffizielle Stadthymne geschafft: «You'll Never Walk Alone» - in etwa: «Du bist nicht alleine» - singen die Fans des heimischen Fußballclubs FC Liverpool inbrünstig. Doch das Miteinander ist unter Druck. Grund ist ein brutaler Bandenkrieg, dem mehrere Unschuldige zum Opfer gefallen sind, auch die neunjährige Olivia.

Am Montag begann in Manchester der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter. Der 34-Jährige soll das Kind versehentlich getötet haben, als er im August 2022 einen Mann verfolgte. Der Gejagte drang in das Haus von Olivias Familie ein, der Schütze feuerte hinterher. Dabei wurde der Flüchtige, ein verurteilter Einbrecher, schwer verletzt. Auch Olivias Mutter wurde verwundet - und das Mädchen tödlich getroffen.

Der Aufschrei war groß. Im Anfield-Stadion gedachten die Fans der Neunjährigen mit herzzerreißendem Klatschen, und Trainer Jürgen Klopp zeigte sich entsetzt. Doch die Ermittlungen sind schwierig. Denn auf der Suche nach Tätern und Hintermännern stößt die Polizei auf eine Mauer des Schweigens, es gibt Vergleiche zur «Omertà», der Schweigepflicht der Mafia. Anders als im berühmten Fußballsong ist sich in Liverpool offenbar doch jeder selbst der Nächste.

Die Stadt hat die höchste Rate an Drogendelikten

Es herrsche eine «no grass»-Kultur, sagte der Experte Robert Hesketh von der John Moores University in Liverpool - mit dem Slangwort «grass» (Gras) werden Polizeispitzel beschimpft. Wer plaudert, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch Familie und Heim. Auch ein aufsehenerregender Appell der Polizei an die «kriminellen Bruderschaften», im Fall Olivia doch ausnahmsweise Informationen mit den Behörden zu teilen, verhallte. «Normalerweise ist es die Angst vor Gewalt, die die Menschen zum Schweigen bringt», so Hesketh.

Als Heimatstadt der Beatles ist Liverpool weltberühmt. Der Eurovision Song Contest im Mai wird ebenfalls viele Touristen anlocken. Doch die Stadt mit 500.000 Einwohnern ist auch so etwas wie die Hauptstadt der Kriminalität. In den zwölf Monaten bis März 2022 registrierte das britische Innenministerium mehr als 28.000 Gewaltverbrechen, vor einem Jahrzehnt waren es 4500. Zudem hat die Stadt die höchste Rate an Drogendelikten in England und Wales.

Die Lage als Hafenstadt am Fluss Mersey und die große irische Diaspora mit ihren Verbindungen aus dem jahrzehntelangen nordirischen Bürgerkrieg sorgen dafür, dass Waffenbeschaffung seit Jahrzehnten einfacher fällt als anderswo. Doch zuletzt scheint die Bandengewalt zu eskalieren. Es geht um Drogen, es gibt Verteilungskämpfe. In derselben Woche, in der das Mädchen getötet wurde, wurden auch eine 28-jährige Frau und ein 22-jähriger Mann erschossen. Auch sie wurden offenbar aus Versehen zu Opfern des Kriegs in der Unterwelt. An Heiligabend trafen Kugeln eine junge Frau vor einem Pub nahe der Stadt. Ein weiteres Zufallsopfer.

Mangel an gut bezahlter Arbeit beflügelt die Kriminalität

«Jugendbanden sind viel gewalttätiger geworden und haben sich mit Gruppen der organisierten Kriminalität zusammengetan», sagte Experte Hesketh der Deutschen Presse-Agentur. Die Wahrnehmung von legaler Arbeit und Kriminalität verschwimme, auch wegen des Mangels an gut bezahlter Arbeit. Die Lebenskostenkrise mit enorm gestiegenen Preisen für Energie und Lebensmittel trage dazu bei, im Gegenzug gebe es kein Geld für vorbeugende Maßnahmen wie Jugendarbeit. «Kriminalität ist zu einer Form der Arbeit geworden», sagte Hesketh.

In Liverpool dominierten vor allem kriminelle Familien und Kartelle mit internationalen Verbindungen, die mit Menschenhandel, Geldwäsche und Drogen ein Vermögen verdienen, sagte der Kriminologe Simon Harding von der University of West London der dpa. Viele Gangsterbosse lebten im Ausland, die Verbindungen reichten über Staatsgrenzen. Auch deshalb dauerten die Ermittlungen lange.

Mittlerweile erreicht die Gewalt in Liverpool auch eher bürgerliche Bezirke wie Dovecot, wo Olivia wohnte. Sie lasse ihre Kinder schon lange nicht mehr auf der Straße spielen, erzählte eine entsetzte Mutter aus Olivias Nachbarschaft der Zeitung «Times» kurz nach der Bluttat: «Dies könnte immer wieder passieren.»


Bildnachweis: © Peter Byrne/PA Wire/dpa
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